[Wo das Meer stillsteht 4,9]

Schlangenbaum

1

fatale einbildungskraft, verpflanzt ins jenseits des fensters
in diesem augenblick – ist der garten teil eines giftigen himmels
in einer flut vervollständigtes grün
geschwollenes pferd – oder an faulen eingeweiden pickende krähe
ein kind starrt einen baum an und sagt – schlangen
ein zischen in den stumpfen ohren des sonnenlichts

2

der sturm bringt dich zum leben
sturm – schlangen peitschender künstler
doppelt erdichtete zweige
von schwänzen versiegelte knoten auf schrillen flöten
wie ätzende, in gebärmütter eingesperrte embryos

3

des frühlings schuppen aufbrechender finger – spuckebedeckt
gleitet auf seinen bauch

4

wo anfangen – dies sind bäume – und das sind schlangen
von einem toten zum andern
wie erträgt der schnee im körperinnern den schmerz der sich ablösenden haut
nach draußen fallend

5

der garten – ist teil eines giftigen gedichts
das ganze wetter wurde gerade aufgefaltet
alle bäume – folgen dem, was in einer schlange ausgebrütet wurde
dem, was furcht in eines kindes auge – was spaß gewesen
tief in deiner kehle zurückgehaltene zähne
erfinden diesen vogelsang – nachthimmel
niedergedrückt in schwarz-grünen morast, kriecht im widerspruch zu einem stück blau
freiwillig hungernde worte festgebunden in wahnsinns-früchten

6

in jeder minute wie viele atemzüge
in jedem atemzug wie viele schlangenbäume
in jedem schlangenbaum wie viele organe, die sich nach tod sehnen

7

die gestalt des vergehens hängt im innersten herzen – häuft erdboden an
ein baum, der fortwährend hervorwächst aus deiner beharrlichkeit
abwärts gebogen – eine beschnittene gerte aus reinem fleisch
treibt eine knospe, die keinerlei gift fürchtet
vier jahreszeiten – erörtern eine düstere winterästhetik
kaltes blut sickert in alle zerbrechlichen gelenke
im wind sich rückwärts bewegende füße – wie zungen verschlungen
und der dichter streift immer noch blätter ab
wo doch grausamer noch als eine pflanze die entblößte schlange
die mit kindheitserinnerungen
das kind durchbohrt
wie ein schlangenbaum, der sich zufällig in der muße verwirklicht

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Text nach YANG LIAN, Dove si ferma il mare

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