[Wo das Meer stillsteht 4,7]
Die gestalt der gespenster
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nein. aber angenommen, gespenster könnten nicht umhin, eines menschen alter zu haben, hätte tod dann noch einen sinn? verweste kinder *), zu scharen versammelt, würden das dunkelrote fleisch des jüngsten ins leben rufen. ist nicht auch die fliege, die in deinen mund fällt, tausende von jahren alt? sie legte ihre eier zu gleicher zeit. ein in deinem fleisch vergrabener kleiner weißer same erleuchtet dich. denn fleisch ist das einzige, das zum leuchten gebracht werden kann. den toten gefällt die zeremonie der geburt.
bei der feier zu einem fünftausendsten geburtstag wirst du all deine vergangenen du’s wiedererkennen – und das gespenst, das niemals dahinschwinden kann. einander träumend wie in einer umarmung unter der warmen berührung eines fingers, der nicht berühren kann, bist du und du zu einer familie geworden. es kann nur dieser körper sein, ein unzählige male verloren gegangener ort, und beide sitzen sie auf dem kleinen platz aus stein, der das tiefere schwarz vergessen hat, das zurückgelassen wurde. nein. schmerz. tausend jahre dehnen sich in ein einziges zucken.
*) die englische übersetzung hat „rotted children“, die italienische „giorni marci“ und das chinesische orginal gibt folgendes wieder (leider ist es mir nicht gelungen, einen besseren scan herzustellen):
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Text nach YANG LIAN, Dove si ferma il mare