Pasolini: Für ein ungeborenes Kind

Am Ende der schneeweißen neuen Brücke über den Tiber,
fertig gebaut von den Katholiken, um die Faschisten nicht Lügen zu strafen,
zwischen Friesen, Säulenstümpfen, falschen Fragmenten, unechten Ruinen
eine Gruppe von Frauen, die in der Sonne auf Kunden wartete.
Darunter auch Franca, eine, die aus Viterbo hierher gekommen war,
ein Mädchen, aber schon Mutter, die war am schnellsten:
lief rufend zur Tür meines Autos
so selbstsicher, daß ich sie nicht mehr enttäuschen konnte:
stieg ein, machte es sich bequem, fröhlich wie ein Junge,
und führte mich Richtung Via Cassia: bogen dann ab und
fuhren auf einer verlassenen Straße unter der Sonne
zwischen Gipsbaustellen und tripolitanischen Häuschen
und gelangten zu ihrem Platz: eine kleine Wiese
unterhalb einer Anhöhe mit Moosflechten und Grotten.
Ein altes braunes Pferd weiter hinten im feuchten Gras,
ein leeres Auto inmitten der Büsche
und nicht weit : hier und dort das Echo festlicher Böller:
rings herum war es voller Paare, junge und arme Leute.
In jenen Tagen waren mein Leben, meine Arbeit angefüllt,
keine Unausgeglichenheit, keine Angst bedrohte mich:
jahrelang war ich vorangekommen, zunächst durch die Gnade des Körpers,
– Sanftmut, Gesundheit und Begeisterung, die mir die Geburt gab,
dann durch ein Licht des Denkens, wenngleich noch unsicher,
– Liebe, Kraft und Bewußtsein, die ich mir im Leben erwarb.
Und doch, erstes und einziges ungeborenes Kind, es schmerzt mich nicht,
daß du niemals hier sein kannst, auf dieser Welt.

Pier Paolo Pasolini, A un figlio non nato

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